Dichte Wolken spiegeln sich in Fenstern und die Luftfeuchtigkeit ist zu hoch. Ich sehe verschwommen und ein leichter Schwindel breitet sich in meinem Körper aus. Fahrzeuge halten an, damit ich unter dem bewölkten Himmel die Strecke zwischen einer Empfindung zur nächsten sicher zurücklegen kann: Meine Hände beginnen zu zittern und mein Herz schlägt in einem merkwürdigen Rhythmus. Ich weiß nicht, ob die Motorengeräusche lauter als üblich sind, oder ob das dröhnende, aufheulende Geräusch in meinem Magen entsteht. Die meiste Zeit bleibe ich mit einem Zögern an den Bordsteinen stehen, als wären sie Kipppunkte. Ich trage die gleiche Nervosität in mir wie die Blüten an den Ästen am Straßenrand, die sich im Wind auf und ab bewegen. Wenn ich ihre Schatten lang genug beobachte, sind auch sie feingliedrige Körperteile. Der Himmel wechselt seine Farbe. Er ist dunkelgrau, fast schwarz, und ich laufe schneller, um noch pünktlich zu sein. Als sich meine Wahrnehmung weiter öffnet, werde ich von dem Benzingeruch überwältigt und von dem Grün der Blätter, der Weichheit von Moos zwischen den Steinen, das letzte Licht, das von einer der Windschutzscheiben reflektiert wird. Ein plötzliches Aufschimmern, während die Vögel tiefer als sonst fliegen. Mein Blick ist fordernd, während ich alles in mich aufnehme. Die Ärztin tastet mit ihren kühlen Fingern meinen Bauch ab. Sie stellt mir einige Fragen, nickt dabei oder tippt etwas in die Tastatur ihres Computers. Sie misst meinen Blutzuckerspiegel. Schließlich sagt sie: Sie sind ja völlig unterzuckert! Es tut mir leid, ich muss Ihnen leider die Diagnose Lebenshunger ausstellen. Ein Symptom von Lebenshunger seien undefinierbare Magengeräusche, die leicht mit den ersten Anzeichen eines Gewitters zu verwechseln sind. Die Heilungschancen stünden gut, wenn ich endlich auf meine ungelesenen Nachrichten antworten oder mit dir in einem See schwimmen gehen würde. Unser Gespräch endet mit einer Warnung: Sehen Sie sich auf keinen Fall alte Fotos an. Ihr Körper zehrt jetzt schon von Erinnerungsreserven. Sie sollten einen chronischen Verlauf vermeiden.
Dieser Text ist im Rahmen des einwortKollektivs zum Thema “Hunger” entstanden. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate zu einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen.
Schaut unbedingt bei den folgenden Substacks vorbei, wo weitere Texte erschienen sind bzw. erscheinen werden:
Sofia schreibt auf “Fast jeden Sonntag” über den Hunger nach mehr und sendet Grüße aus dem Präburnout.
In “oliwias notatka” geht es um ein Interview, welches sie seit der Pubertät begleitet und um ihre polnische Zunge, die bestimmtes Essen in Emotionen und Identitäten verwandelt. An dieser Stelle nochmal vielen Dank an Oliwia für das Lektorat meines Textes!
Vivian schreibt auf “Der schöne Schein” über das Erlernen von Hunger in den 2000ern und Hunger als Teil der eigenen Familiengeschichte.
Antoni schreibt auf “Pöbeln und Popkultur” vom Einverleibtwerden durch Social Media.
Kea nimmt uns in ihren “Hinterhofgedanken” in hungrige Welten mit.