Die Spielregeln des Vergessens
1.
Es gibt kein vorsätzliches Vergessen.
2.
Vergessen ist eine Fähigkeit, die erlernt werden kann.
3.
Wenn Vergessen erlernt werden kann, kann sie auch verlernt werden.
4.
Wenn eine Person, die mir nahesteht, etwas vergisst, egal ob es ein Geburtstag oder ein Wohnungsschlüssel ist, beginnt sie meist sich zu entschuldigen. Dabei habe ich in solchen Situationen noch nie Ärger empfunden. Im Vergessen liegt für mich etwas Schönes: Wer etwas vergisst, hat für einen Moment die Kontrolle abgegeben. Wer etwas vergisst, ist in Zufälle verstrickt. Wer vergisst, manipuliert nicht.
5.
Einmal habe ich meinen Lieblingsschal in einem Restaurant liegen lassen, aber weil es kein vorsätzliches Vergessen gibt, habe ich nur im Rückblick sein Fehlen bemerkt, ohne zu wissen, wo ich ihn habe liegen lassen. Man weiß man nicht immer, wo man nach dem was vergessen wurde, suchen soll. Vergessen ist eine leise Ahnung, ein Zusammensetzen von Hinweisen.
6.
Als ich mir Wochen später vorgenommen habe, mich mit dem Verlust abzufinden und endlich in die Stadt zu gehen, um mir einen neuen Schal zu kaufen, habe ich ihn bei einem erneuten Besuch im Restaurant wiedergefunden. Jemand hat ihn auf einen Hocker neben der Garderobe gelegt. Sorgfältig gefaltet. Als hätte er die ganze Zeit auf mich gewartet. Es verstößt nicht gegen die Regeln des Vergessens, das Vergessen manchmal mit Schicksal zu verwechseln.
7.
Wenn ein Gegenstand, der an einem Ort vergessen wurde, wieder auftaucht, ist eine der Spielregeln, einen Freudenschrei auszustoßen. Vor allem, wenn der verloren geglaubten Gegenstand schon längst abgeschrieben und sich mit dem Verlust abgefunden wurde.
8.
Was vergessen wird, beschränkt sich nicht nur auf Gegenstände. Es gibt viele Erinnerungen, die ich schon vergessen habe, obwohl ich in diesen Momenten glücklich war und sie sich aus dem Alltäglichen geschält haben. Eine Freundin sagt: Weißt du noch, als du mich vor einigen Jahren bei meinen Eltern besucht hast und wir am Fluss gegessen haben? Wie wir danach auf diese Party gegangen sind, ohne einen einzigen Schluck Alkohol getrunken zu haben, und die ganze Nacht getanzt haben? Ich beginne zu weinen, weil ich es nicht mehr weiß.
9.
Ich rufe meine Großmutter an. Ich habe sie viel zu lang nicht mehr angerufen. Am anderen Ende der Leitung erwarten mich keine Vorwürfe, sondern nichts als echte, fast kindliche Freude, was mir meine Abwesenheit der letzten Monate noch schmerzhafter vor Augen führt. Sie nennt die Namen aller möglichen anderen Verwandten, bevor sie auf meinen Namen kommt. Ich sage mir immer wieder: Man kann nicht vorsätzlich vergessen. Ich darf ihr das Vergessen nicht übelnehmen. Gegen manche Arten des Vergessens lässt sich nichts unternehmen. Und es bleibt nichts anderes zu tun als die Hand der anderen Person zu halten. Wenn da nicht die Entfernung zwischen uns wäre, der fehlende Empfang und die Störgeräusche, die sich unter ihre Stimme mischen. Mit einer Kraft, die ich nicht erwartet habe, sagt sie: Der Kirschbaum im Garten ist voller Früchte, dass die Äste von ihrem Gewicht schon herunterhängen. Aber niemand pflückt sie und jetzt kommen die Stare.
10.
Es gibt auch Situationen, in denen genau das Gegenteil eintritt. Fälle, in denen es einer Person unglaublich schwerfällt, eine andere Person zu vergessen. In denen das Vergessen verlernt wurde. Es scheint unmöglich. Personen, bei denen man sich noch lang fragt, wie ein Leben heute mit ihnen aussehen würde. Würden wir gemeinsam wohnen? Würden wir im Sommer das günstigste Airbnb in einem fremden Ort nehmen und nichts von der Stadt sehen, weil wir es vor lauter Nähe nicht schafften, das Bett zu verlassen? Würden wir heiraten wollen? Oder uns über alle Konventionen erheben, weil wir keine Beweise für etwas brauchten? Würden wir noch immer bis an unsere Grenzen laufen, die markieren, was wir aushalten können, bis die Dämmerung anbricht, die verlassenen Wege dunkelblau, dann grau, und der Geruch nach Wasser und Moos vom glänzenden Fluss aufsteigt? Eine dieser Personen schreibt: „Ich versuche dich zu vergessen, aber es funktioniert nicht“. Sätze wie diese lasse ich nicht mehr gelten. In einem Versuch liegt immer eine Intention. Kontrolle, die sich hinter einer romantischen Geste versteckt. Eine weitere Regel des Vergessens ist: Lass dir nicht alles gefallen.
11.
Vor drei Tagen habe ich minutenlang tastend meinen Rucksack durchsucht, meine Finger umfassten jeden Gegenstand, strichen über den Boden, schlüpften in jedes Fach, bis ich mir eingestehen musste, dass ich meine Sonnencreme zu Hause habe liegen lassen. Es war Mittag und die Sonne stand direkt über mir. Ich verbrachte drei Stunden lang mit meinem Notizbuch auf der Terrasse eines Cafés. Mir wurde leicht schwummrig von all der Wärme. Erst am Abend stellte ich fest, wie schlimm ich mich verbrannt hatte. Meine Kopfhaut war leuchtend rot. Auch meine Wangen und Nase haben zu viel Sonnenlicht abbekommen. Zuerst spannt die Haut nur, dann beginnt sie zu brennen. Jedes Mal, wenn meine Fingerspitzen oder die einer anderen Person nun mein Gesicht berühren, tut es weh. Ich schreibe eine Nachricht: Ich weiß, Vergessen kann verdammt schmerzhaft sein.
12.
Als meine Schwester und ich noch Kinder waren, nahm mein Vater uns häufiger in seinem Auto mit. Wenn er in die Werkstatt fuhr, wir einen Termin hatten oder er sich ein Fußballspiel ansehen wollte. Wir liebten seinen dunkelroten Ford, obwohl er fast auseinanderfiel oder gerade deshalb. Nachdem er den Wagen geparkt hatte und wir uns entfernten, es war egal ob wir erst einige Meter weit gekommen waren oder schon 10 Minuten durch die Stadt spaziert waren, blieb er plötzlich stehen, und sagte: „Habe ich auch wirklich abgeschlossen?“ Selbst wenn wir bejahten, ging er noch einmal zurück und sah nach. Manchmal begann ich dann selbst daran zu zweifeln, obwohl ich mir davor sicher gewesen war, dass er den Wagen abgeschlossen hatte. Meine Schwester und ich warteten an Ort und Stelle, wir versprachen jedes Mal uns nicht vom Fleck zu bewegen. In den Sommern war die Luft heiß und stieg von den grauen Pflastersteinen auf. Wir trugen die gleichen Sandalen. Graue Gebäude ragten zu allen Seiten von uns auf, Menschen mit Aktenkoffern liefen an uns vorüber. Plötzlich dachte ich: Was, wenn er wirklich vergessen hatte den Wagen abzuschließen und jemand kam und eine Fensterscheibe einschlug, um all unsere gemeinsamen Erinnerungen aus diesem Sommer, die mir so viel bedeuteten, aus dem Wagen zu stehlen? Mit einem Mal war ich davon überzeugt, dass genau das in der Zwischenzeit geschehen war. Die Luft kam mir plötzlich noch heißer vor. Ich schwitzte und spürte, wie sich die Angst anfühlte, die das Vergessen auslösen konnte. Sie fühlte sich einsam und ratlos an. Sie ließ mich an der Realität zweifeln. Dann kam mein Vater wieder, nahm uns an die Hand und sagte: War abgeschlossen. In seinen Worten lag keine Erleichterung. Er lächelte nicht, sondern ärgerte sich über die verlorene Zeit und die Unsicherheit, die mich auch heute noch manchmal in die Knie zwingt.
13.
Ich betrachte mich im Spiegel. Die Haut in meinem Gesicht beginnt sich zu schälen. Durchsichtige, dünne Plättchen. Sie lösen sich von meinem Körper ab. Entsorge ich sie im Restmüll? Oder im Biomüll? Manchmal glaubt man im Vergessen, Teile von sich aufgeben zu müssen. Im Vergessen weniger zu werden, zu verschwinden.
14.
Ich schrecke nachts, schweißgebadet aus einem Albtraum hoch. Das gleiche Ereignis immer wieder. Dunkle Schatten bewegen sich auf und ab, die Verzweigungen der Äste vor dem Fenster zeichnen sich verzerrt auf meiner Wand ab, bewegen sich gespenstisch und im Wind. Meine Gedanken hängen noch halb im Traum. Zeigt die Realität überdimensional. Ich möchte mich übergeben. Möchte ein Loch in die Wand schlagen, weil es kein vorsätzliches Vergessen gibt. Wieso holt mich diese Sache immer wieder ein?
15.
Die letzte Spielregel des Vergessens lautet: Niemand kann gewinnen oder verlieren.
Dieser Text ist im Rahmen des einwortKollektivs zum Thema “Vergessen” entstanden. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate zu einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen.
Zum Thema “Vergessen” sind bereits folgende Texte auf Substack erschienen:
“Vergessen. Oder: Eine Leipziger Bärlauch notatka gegen mein Vergessen.” von Oliwia
“Psychisch krank seit der Kindheit” von Kea
“Vergessen” von Vivian
“Vergessen in der Praxis” von Sofia
“As it was oder Leben nach COVID” von Antoni